Astronaut, der 178 Tage im Weltraum verbrachte, sagt, wir leben eine Lüge
178 Tage. Fast ein halbes Jahr lang schwebte Ron Garan rund 400 Kilometer über der Erde. Tag für Tag blickte er aus den Fenstern der Internationalen Raumstation auf unseren Planeten hinab. Was er dort sah, erschütterte alles, was er über das Leben auf der Erde zu wissen glaubte. Seine Erkenntnis ist unbequem: Wir leben eine Lüge. Nicht aus böser Absicht und nicht, weil wir unwissend wären, sondern weil wir in einem System gefangen sind, das uns blind macht für die Wahrheit, die aus dem Weltraum klar zu erkennen ist.
Die Lüge der Trennung
Hier auf der Erde erzählen wir uns täglich Geschichten über Grenzen, über wir und die anderen, über Nationen, die miteinander konkurrieren, über Ressourcen, die angeblich uns gehören, und über Konflikte, die woanders stattfinden und uns nichts angehen. Doch aus dem Orbit verschwinden diese Geschichten wie Nebel in der Morgensonne.
Ron Garan beschreibt den Moment, in dem ihm klar wurde: All die Linien auf unseren Landkarten, all die Mauern, die wir errichten, und all die Unterschiede, die uns so wichtig erscheinen, existieren nicht. Sie sind unsichtbar. Eine Erfindung. Eine kollektive Illusion, die wir uns gegenseitig erzählen, bis wir sie für Realität halten. Die Erde zeigt sich als das, was sie wirklich ist: eine leuchtend blaue Kugel ohne Grenzen. Ein einziges, zusammenhängendes System. Ein zerbrechliches Raumschiff, das durch die Dunkelheit des Alls gleitet.
Die Lüge der Prioritäten
Doch das ist nicht die einzige Lüge, die Garan entlarvt. Die größere, gefährlichere betrifft unsere Prioritäten. Wir haben uns eingeredet, dass die Wirtschaft an erster Stelle stehen muss. Ist es profitabel? Das ist meist die erste Frage. Erst danach denken wir an Menschen oder an unseren Planeten, wenn überhaupt.
Diese Hierarchie, sagt Garan, ist grundlegend falsch. Denn aus der Perspektive des Weltraums wird deutlich: Ohne einen funktionierenden Planeten gibt es keine Gesellschaft. Und ohne eine funktionierende Gesellschaft gibt es keine Wirtschaft. Wir haben die Pyramide auf den Kopf gestellt.
Wir optimieren Quartalszahlen, während unter uns das Fundament bröckelt. Wir verhandeln über Prozentpunkte Wirtschaftswachstum, während der dünne blaue Schleier, der unser Überleben sichert, immer dünner wird. Garan sah diese Atmosphäre aus dem All: hauchzart, kaum dicker als eine Apfelschale im Verhältnis zur Erde. Und er erkannte: Wir behandeln sie, als wäre sie unendlich belastbar.
Die Lüge der Passagiere
Es gibt noch eine dritte Lüge, vielleicht die gefährlichste: Wir leben, als wären wir nur Passagiere. Passagiere warten darauf, dass andere handeln: Politiker, Wissenschaftler, irgendjemand. Sie glauben, es gäbe einen Plan B, einen anderen Planeten, ein Rettungsboot.
Doch Garan bringt eine einfache Wahrheit mit: Wir sind keine Passagiere. Wir sind die Besatzung. Jeder einzelne von uns. Auf diesem Raumschiff Erde gibt es keine Zuschauer. Wenn das Lebenserhaltungssystem versagt, betrifft es alle. Wenn die Ressourcen erschöpft sind, leiden alle. Es gibt keine Rettung, keinen anderen Ort, keine zweite Chance. Acht Milliarden Menschen. Ein Planet. Begrenzte Ressourcen. Das ist die Realität.
Was die Wahrheit von uns verlangt
Die Wahrheit, die Garan aus dem Orbit mitbringt, ist radikal einfach: Alles ist miteinander verbunden. Die Erde kümmert sich nicht um unsere Flaggen. Das Klima kennt keine Pässe. Die Ozeane respektieren keine Grenzen.
Wenn wir die Atmosphäre verschmutzen, atmen wir alle dieselbe Luft. Wenn die Meere steigen, sind alle Küsten bedroht. Was hier geschieht, betrifft dort. Was heute entschieden wird, prägt morgen. Was einer tut, wirkt sich auf alle aus.
Diese Wahrheit ist unbequem, weil sie Verantwortung bedeutet. Sie zeigt, dass wir nicht länger so tun können, als gingen uns die Probleme nichts an.
Die Frage, die bleibt
Ron Garan stellt eine einfache, aber tiefgehende Frage: Wie würdest du leben, wenn du diese Lüge durchschaut hättest? Wenn du wirklich begreifen würdest, dass du Teil der Besatzung bist? Welche Entscheidungen würdest du anders treffen? Welche Konflikte würden plötzlich sinnlos erscheinen? Welche Probleme würden unerträglich dringend werden?
Der Blick zurück zur Erde
Ron Garan ist längst zurück auf der Erde. Doch er sieht sie mit anderen Augen. Und er kann nicht schweigen über das, was er gesehen hat. Seine Botschaft ist klar und tief: Die Erde ist schön. Die Erde ist zerbrechlich. Die Erde ist unser einziges Zuhause.
Wir müssen nicht ins All reisen, um das zu erkennen. Wir müssen nur aufhören, uns selbst zu belügen: mit der Lüge der Trennung, der Lüge der falschen Prioritäten und der Lüge, dass es nicht unsere Aufgabe sei.
Wir alle sitzen im selben Raumschiff, unter demselben dünnen blauen Schleier. Und es gibt keinen Notausgang.
Die Frage ist nicht, ob Ron Garan recht hat. Die Frage ist: Was machen wir mit dieser Wahrheit?