Hochsensible Menschen – Wer sie sind und was sie wirklich brauchen
Wer kennt nicht Menschen, denen im sehr wörtlichen Sinne leicht etwas „auf die Nerven geht“, die sich schnell von allem Möglichen in ihrer Umgebung gestört und überreizt fühlen, die emotional dünnhäutig und verletzlich sind, die kritische Bemerkungen sofort persönlich nehmen und schon auf einen schiefen Blick hin verunsichert reagieren? Die auf der anderen Seite einen erstaunlichen Blick für Details und Nuancen haben sowie ein feines Gespür für Menschen und Situationen. Die ihrem Gegenüber gleichsam Gedanken von der Stirn ablesen und Chancen und Risiken von Handlungsoptionen benennen können.
Erkennst du darin einen Freund? Ein Familienmitglied? Deinen Partner/deine Partnerin? Dich selbst?
Das Fremdbild prägt das Selbstbild.
Typische Sätze, die sehr sensible Menschen von klein auf immer wieder zu hören bekommen haben, lauten so: „Was du nur immer hast“, „Du bist überempfindlich“, „Du bist so schwierig“, „Du machst es kompliziert“ und „Stell dich nicht so an!“. Und dann die gut gemeinten Ratschläge: „Hör einfach nicht hin!“, „Leg dir doch einfach ein dickeres Fell zu!“, „Nimm dir nicht alles so zu Herzen!“. Für ihre Mitmenschen ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wie man so extrem empfindlich sein kann gegenüber Geräuschen, Gerüchen, optischen Wahrnehmungen, Berührungen und emotionalen Eindrücken. Das Unverständnis, das den Hochsensiblen entgegenschlägt und die Andersartigkeit, die ihnen im Vergleich zu anderen selbst auffällt, haben vielfach dazu geführt, dass sie annehmen, mit ihnen stimmt etwas nicht. Sie fühlen sich irgendwie verkehrt und als Außenseiter, sind voller Selbstzweifel und hadern mit ihrer Wesensart.
Sind wir nicht alle ein bisschen sensibel?
Zunächst möchte ich auf die Sensibilität eingehen. Der Begriff wird sowohl für die psychische als auch für die physische Sensibilität verwendet. Die physische Sensibilität – oder auch Irritabilität – realisiert eine Grundeigenschaft des Lebens, und zwar über das Nervensystem. Sie ermöglicht, dass sich das Lebewesen auf seine Umwelt einstellen, Gefahren abwehren und Nützlichem entgegen streben kann. Einfach erklärt: Das Nervensystem nimmt Informationen über die Umwelt und den Organismus auf, verarbeitet diese und veranlasst entsprechende lebensdienliche Reaktionen. Selbstverständlich verfügen alle Menschen über Sensibilität.
Unterschiedlich ist nur der Grad der generellen Sensibilität. Bei hochsensiblen Menschen liegt aufgrund der Konstitution ihres Nervensystems eine stark ausgeprägte Sensibilität vor. Das Phänomen, dass eine Minderheit der Population überdurchschnittlich feinsinnig ist, hat es schon immer gegeben – und hat sich offenbar in der Evolution bewährt. Nur gab es bis zum Ende des letzten Jahrtausends keine spezielle Bezeichnung dafür.
Das Phänomen bekommt einen Namen.
Elaine Aron, US-amerikanische Psychologieprofessorin und Psychotherapeutin, beschäftigte sich seit Anfang der 90er Jahre eingehend mit auffällig hoher Sensibilität, forschte selbst und wertete vorliegende Studien u. a. zu hoher Reaktivität (Jerome Kagan) und Geräuschempfindlichkeit (Iwan Pawlow) aus. In dem Bestreben, eine neutrale Bezeichnung für das Persönlichkeitsmerkmal zu finden, prägte sie den Begriff „High Sensitivity“ – zu übersetzen mit „Hochsensibilität“– und veröffentlichte zu dem Thema sowohl wissenschaftliche Arbeiten (zusammen mit ihrem Mann Arthur Aron) als auch populäre Bücher. Ihr erstes Buch „The Highly Sensitive Person“ erschien 1996 im Original und 2005 in deutscher Sprache unter dem Titel „Sind Sie hochsensibel?“. Elaine Arons Bücher können als grundlegend angesehen werden, alle nachfolgenden Bücher zum Thema Hochsensibilität (auch meines!) beziehen sich darauf.
Hochsensible nehmen Reize verstärkt wahr.
Nach Arons Erkenntnissen ist Hochsensibilität ein veranlagungsbedingtes Persönlichkeitsmerkmal, das 15–20 Prozent der Menschen betrifft, Männer gleichermaßen wie Frauen. Ihrer Kurzdefinition zufolge hat die hochsensible Person („Highly Sensitive Person“, abgekürzt HSP) ein empfindliches Nervensystem, bemerkt Feinheiten in ihrem Umfeld und ist leichter überflutet von einer stark stimulierenden Umgebung. Das besonders leicht erregbare Nervensystem bedingt eine umfangreiche und nuancenreiche Wahrnehmung, eine komplexe Informationsverarbeitung sowie ein intensives Empfinden und ein langes Nachhallen der Eindrücke. Aufgrund ihrer größeren Reizempfänglichkeit nehmen Hochsensible auch geringfügige und unterschwellige Reize wahr. Während Nicht-Hochsensible Unwesentliches (zum Beispiel leise Radiomusik oder Gespräche im Hintergrund) nur zu Anfang bewusst wahrnehmen und dann weitgehend ausblenden, sind Hochsensible weit weniger in der Lage, als unwichtig eingestufte Störreize zu ignorieren. So wird verständlich, wie abhängig sie in ihrer Konzentrationsfähigkeit von günstigen Umgebungsbedingungen sind.
Die Erkenntnis verschafft ein großes Aha-Erlebnis.
Erfahren hochsensible Menschen, dass ihre auffällig hohe Empfindlichkeit eine Normvariante in der Konstitution des Nervensystems ist und nicht etwa eine Krankheit, eine Störung oder eine Anomalie, ist das für sie in aller Regel eine große Erleichterung. Sie können ihre Erfahrungen nun ganz neu einordnen und bewerten und ein neues Selbstverständnis gewinnen.
Dutzende von Einzelphänomenen fügen sich zu einem einleuchtenden Gesamtphänomen zusammen und werden damit deutlich handhabbarer. Hochsensibilität statt Hypersensibilität, Wahrnehmungsbegabung statt Wahrnehmungsstörung – das macht einen großen Unterschied.
Die Hochsensibilität beschert auch Befähigungen und Begabungen.
Werden ihnen dann noch die Befähigungen und Stärken so richtig bewusst, die mit Hochsensibilität üblicherweise einhergehen, kann sich das Selbstwertgefühl deutlich stabilisieren. Zu den Begabungen gehören differenziertes, übergreifendes Denken, Feingefühl, Einfühlungsvermögen, ausgeprägte Intuition, Kreativität, Sinn für Ästhetik, Lernfreude, um nur einige zu nennen. Wer dieses Potenzial erkennt und schätzen lernt, wird den – ohnehin erfolglosen – Versuch, zu einem „Dickhäuter“ zu werden, eher aufgeben können. Selbstannahme und Selbstfürsorge sind hier die Schlüsselworte. Fortan kann es darum gehen, das Leben im Einklang mit dem Wesenszug Hochsensibilität zu gestalten, mit Begrenzungen und Belastungen möglichst souverän umzugehen und Befähigungen und Begabungen auszuleben.
Jeder Mensch will akzeptiert und angenommen werden.
Häufig wird Hochsensibilität verwechselt mit Schüchternheit, Gehemmtheit und Ängstlichkeit oder gar einer Sozialphobie. Es war Elaine Aron ein großes Anliegen, klarzustellen, dass diese Zuschreibungen meist nicht zutreffen. Beobachtend, besonnen und vorsichtig treffen ihres Erachtens den eigentlichen Sachverhalt viel besser. Liegt tatsächlich Schüchternheit vor, dann sei es wie bei anderen Menschen eine erworbene Verhaltensweise. Dahinter steht die Angst, Fehler zu machen, sich zu blamieren, den Erwartungen nicht gerecht zu werden, abgewiesen und abgelehnt zu werden. In einem Umfeld, in dem sie sich wohlfühlen, in Gemeinschaft mit Menschen, von denen sie sich geschätzt fühlen, sind selbst zur Introversion neigende Hochsensible aufgeschlossen und gesellig. Es sei an dieser Stelle noch hinzugefügt, wie wichtig für Hochsensible eine achtsame, respektvolle und wertschätzende Kommunikation ist.
Ein Fragenkatalog gibt Aufschluss.
Ich werde öfter gefragt, wie denn eindeutig festgestellt werden könne, ob man hochsensibel ist. Die Antwort lautet: Es gibt keinen zuverlässigen Test nach wissenschaftlichen Standards. Auch eine Punkteauswertung bei Tests im Internet liefert nur scheinbar ein gesichertes Ergebnis. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass von der zweifelsfreien Feststellung im Grunde nichts abhängt. Man wird schließlich weder ein Medikament einnehmen, noch bekommt man einen „Pass“ ausgestellt, der einem Sonderrechte verleiht. Fragenkataloge können jedoch gute Dienste leisten, indem sie die Selbsteinschätzung anleiten – so auch auf meiner Website http://www.coaching-fuer-hochsensible.de unter „HSP-Test“. Man bekommt überhaupt erst einmal eine Vorstellung davon, welche Aspekte in den Kontext Hochsensibilität gehören.
Jeder Mensch ist einzigartig und facettenreich.
Um einem Schubladendenken vorzubeugen, ist mir wichtig zu betonen, dass niemand mit dem Merkmal Hochsensibilität auch nur annähernd vollständig charakterisiert ist. Man sollte niemanden – auch nicht sich selbst! – auf das Hochsensibelsein reduzieren.
Bei aller Gemeinsamkeit gibt es unter den Hochsensiblen doch große Unterschiede. Das fängt schon damit an, dass es Extrovertierte und Introvertierte unter ihnen gibt (laut Aron sind ca. 70 Prozent introvertiert). Manche verfügen über eine überdurchschnittliche kognitive Intelligenz, aber nicht jeder Hochsensible ist nach der klassischen Definition (IQ größer/gleich 130) hochbegabt.
Nicht alle Hochsensiblen sind zurückhaltend und vorsichtig.
Etliche Hochsensible finden sich in der gängigen Beschreibung von Hochsensibilität nur in Teilen wieder, da sie keineswegs durchgängig eine reizarme Umgebung bevorzugen. Bisweilen haben Hochsensible sogar ein Persönlichkeitsmerkmal, das Psychologen „Sensation Seeking“ (auch „High Sensation Seeking“, abgekürzt HSS) nennen. Sensation Seeking beschreibt eine Veranlagung, die durch den Hang zu Abenteuer und Abwechslung sowie das Streben nach stets neuen starken Eindrücken und mitunter sogar zu riskantem Handeln gekennzeichnet ist. Für diese Menschen (HSP+HSS) liegt die Herausforderung darin, sowohl ihre empfindsame als auch ihre abenteuerfreudige Seite zum Zuge kommen zu lassen und ihr optimales Erregungsniveau auf dem schmalen Grat zwischen Langeweile und Überforderung zu finden.
Hochsensible brauchen mehr Erholungsphasen.
Auch ohne die Besonderheit des Sensation Seeking ist es für Hochsensible eine immerwährende Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie sich weitgehend in ihrem Wohlfühlbereich bezüglich der Menge und Intensität der auf sie einströmenden Reize bewegen. Im Vergleich zu nicht-hochsensiblen Menschen liegt der Wohlfühlbereich, der zugleich auch der Bereich der besten Leistungsfähigkeit ist, niedriger und ist enger. Sie brauchen ihre Pausen und Erholungsphasen, und sie brauchen immer wieder Zeit für sich allein, um zu sich zu finden und neue Kraft für Aktivitäten und Zusammensein mit anderen zu schöpfen.
Text von und herzlichen Dank an:
Ulrike Hensel
Die Autorin Ulrike Hensel studierte Angewandte Sprachwissenschaft und absolvierte später eine Coaching-Ausbildung. Sie arbeitet selbstständig als Textcoach für Trainer, Berater und Coaches sowie als Coach für Hochsensible.
http://www.coaching-fuer-hochsensible.de
Ihr Buch zum Thema:
„Mit viel Feingefühl – Hochsensibilität verstehen und wertschätzen”
Junfermann-Verlag, Paderborn, 2013
Das Buch vermittelt umfangreiches Wissen und ermöglicht Erkenntnisgewinn. Es befasst sich mit den Auswirkungen der Hochsensibilität in den unterschiedlichen Lebensbereichen, von der Familie bis zum Beruf.
http://www.mit-viel-feingefuehl.de
Emfpehlung zum Thema:
Mit viel Feingefühl: Hochsensibilität verstehen und wertschätzen
Hochsensible sind ein Segen für die Menschheit
Eine laute Umgebung und Menschenansammlungen meiden. Bei kleinen unvorhergesehenen Veränderungen im Alltag ein mulmiges Gefühl haben. Den Rückzug in die Natur brauchen wie die Luft zum Atmen. Die Neigung, unbekannte Örtlichkeiten und Menschen meiden zu wollen. In einen Raum voller Menschen kommen und, ohne dass man jemandem ins Gesicht sieht, spüren wie die Stimmung ist. Im Job hin und wieder überfordert sein wenn es im Großraumbüro laut und hektisch zugeht. Dinge vorhersehen, die Monate später eintreten. Ca. 15 % unserer Gesellschaft sind von Hochsensitivität bzw. von Hochsensibilität betroffen (HSP).
Anders sein
Diese Menschen neigen eher zu Burnout, Depressionen oder Angstzuständen als andere Menschen. Zudem macht ihnen eine permanente innere Unruhe oft sehr zu schaffen. Im Kaufhaus oder am Flughafen fühlen sie sich beklemmend und möchten nur noch das Weite suchen, zuviele feinstoffliche Informationen und Schwingungen prasseln auf sie nieder. Grund dafür ist, dass sie ihre Umgebung sehr viel intensiver wahrnehmen. Die Sinne sind geschärft, die Antennen stehen jederzeit auf Empfang. Die Folge ist schnell Reizüberflutung und Überforderung. Während man seine Freizeit noch so gestalten kann, dass man auf besonders belastende Dinge verzichtet (Amazon, Ebay & Co. sei Dank!), so gestaltet sich dies im Arbeitsleben oft als problematisch, weil man dem Chef nicht eingestehen will und kann, dass man etwas weniger belastbar oder flexibel ist als vielleicht der “Durchschnitt”. Im schlimmsten Fall macht die Angst zu schaffen, die eigene Existenz könnte bedroht sein.
Erst Recht ist es nicht einfach in unserer Gesellschaft zurecht zukommen wenn man nicht mal weiß, dass man aufgrund HSP etwas aus der Reihe tanzt. Und es dauert seine Zeit, zu merken, dass man „anders tickt”. Umso erlösender, sobald man sich seiner schicksalhaften Begabung bewusst ist. Ein HSP-Test von “Zart besaitet”, dem Verein zur Förderung hochsensibler Menschen, kann hier wichtige Erkenntnisse liefern. Denn was auf den ersten Blick sehr belastend ist, und das ist es durchaus, offenbart auf den zweiten Blick eine Fülle an positiven Aspekten, die es zu leben lohnt. Man kann dies jedoch nur dann umsetzen und glücklich damit fahren, wenn man nicht mit seinem Schicksal hadert, sondern wenn man sich bewusst ist jederzeit selbst für sein Leben verantwortlich zu sein und demenstrprechend handelt. Nebenbei bemerkt betrifft dies alle Menschen, ob HSP oder nicht.
Was für die Betroffenen meist als erhebliche Nachteile in einer lauten, hektischen, leistungsbezogenen Gesellschaft empfunden werden, ist ein Segen für die Welt. Es sind die Kleinigkeiten, die zählen. Die Befindlichkeit anderer Menschen zu “lesen” ist eine Gabe, die hilfreich ist, wenn man einem Arbeitskollegen zuhört, sich für seine Probleme interessiert und Mitgefühl empfindet und zeigt. Hochsensible Menschen können Situationen reflektieren und sind kreativ. Sie können für die Gesellschaft und für Unternehmen einen unschätzbaren Wert darstellen, wenn sie da eingesetzt werden, wo sie ihre Potenziale entfalten können. Überall werden feinfühlige Menschen gebraucht, denn sie gehen auf andere gefühlvoll ein, verbinden und bauen Brücken. Unsere Ellenbogengesellschaft braucht HSP´ler, denn sie sorgen für einen Ausgleich, Harmonie und Gleichgewicht (auch in Wirtschaftsunternehmen, gerade da!). Hochsensible Menschen sind neugierig, aufgeschlossen, intelligent, hinterfragen vieles, sind oftmals spirituell und wissen intuitiv, dass es noch mehr gibt da draußen, als nur das, was man anfassen kann.
Hilfe für Hochsensible Menschen
Sollte es zu viel werden, bringen Ruhephasen und Abgrenzung die dringend notwendigen Pausen. Bei aller Nächstenliebe im Hinblick auf oben erwähntes Mitgefühl ist es wichtig, sich abgrenzen zu können, wenn es notwendig ist und die negativen Schwingungen der Anderen nicht ungefiltert in sich auf zu nehmen. Energetisch, wie auch verbal. Nein sagen können, Grenzen setzen. Wenn am Wochenende die Freunde gesellig auf die Piste, ins Kino oder zum Essen gehen, ist es oft weit erholsamer es sich zuhause gemütlich zu machen, mit der/dem Liebsten, oder alleine. Sich nicht abkapseln vom Rest der Welt, aber für seine persönlichen Inseln sorgen, die Mischung macht´s. Und selbst wenn der Bekannten- oder Verwandtenkreis dafür kein Verständnis haben sollte, ist ein bisschen Eigensinnigkeit für HSP´ler nicht egoistisch, sondern lebenswichtig. Ebenso sollte man versuchen, nicht alles auf sich zu beziehen. Wenn der Partner schlecht gelaunt ist, muss dies nicht zwangsläufig an einem selbst liegen. HSP´ler brauchen regelmäßige Ruhe- und Entspannungsphasen, die Erdung durch die Natur und den Kontakt mit der Geistigen Welt, die uns stets beschützt und jederzeit präsent ist. Urvertrauen ist für diese Menschen besonders wichtig.
Bist du hypersensibel (HSP)?