Der Mensch weiß alles – Alle Kinder sind Genies
Die Schetinin-Schule in Russland: Stille Revolution
Die Stadt Gelendzhik in der Krasnodar-Region am Schwarzen Meer ist nicht gerade eine Metropole, von der man Revolutionen erwartet. Doch in den Wäldern verbirgt sich eine Schule, welche vieles in Frage stellt, was wir über das Lernen und Schule zu wissen glauben. Der ehemalige Musiklehrer Michail Petrowitsch Schetinin (auch: Mikhail Petrovich Shchetinin) hat dort ein Wald-Internat aufgebaut, das ein völlig anderes Konzept von Schule verwirklicht und atemberaubende Ergebnisse hervorbringt: die Shkola Akademika Schetinina.
Was über die Schule berichtet wird, klingt unglaublich: Einige der Kinder lernen nach Aussage der Schule und zahlreicher Besucher aus aller Welt in einer Geschwindigkeit, die aus traditioneller Sicht unerklärlich scheint. 13-jährige Absolventen studieren da schon mal im zweiten Semster Psychologie, während sie weiter Lehrbücher und Lehrmethoden für die Schule entwickeln und zum Teil ältere Kinder unterrichten. Wobei sie eben genau das nicht tun: Unterrichten.
Denn alle Kinder sind sowohl Lehrer als auch Schüler. Die Schüler finden in Lerngruppen mit allen Altersstufen von 8 bis 22 Jahren zusammen und erarbeiten selbständig gemeinsam Lösungen zu konkreten Fragestellungen. Es wird immer nur an einem Thema gearbeitet, bis es gelöst ist oder vollständig verstanden ist. Es gibt keine verschiedenen Fächer, sondern nur Wissen, dass zur Lösung einer Frage benötigt wird. Das Ganze ist mehr ein Rätsel-Club als irgendetwas, das herkömmlichem Unterricht ähnlich sieht.
Wissensosmose: Der Mensch weiß alles
Soweit klingt alles noch nach freier Schule. Aber was wirklich in den Arbeitsgruppen passiert, erklärt Schetinin selbst wie folgt:
„Hier geschieht hauptsächlich die Annäherung. Wenn uns das Treffen gelingt, dann können sie gemeinsam das Ziel erreichen, dass in 10 Tagen der Mathematikstoff der ganzen Mittelschule erfasst wird. Also auf 11 Jahre geteilte Mathematik, in 10 Tagen. Die ist die Aufgabenstellung. Das geschieht momentan mit solchen Schülern, denen es gelingt, sich mit anderen Schülern zu treffen, welche dieses Wissen schon haben. Das liegt am offenen, freien Miteinander. Wenn die polaren Strukturen (Kräfte) sich berühren, dann wird Wissen weitergegeben. Das ist bekannt. Beobachtungen an Liebespaaren zeigen, wie sie sich fast ohne Worte verständigen können. Kaum sagt einer etwas, schon hat es der andere bereits aufgenommen.“
An der Schule findet kein Lernen statt, sondern eher so etwas wie Wissens-Osmose. Die Übertragung von Wissen von einem Menschen auf einen anderen. Ein Teil davon sind Worte und Erklärungen, aber es geht um mehr. Martin Masliko ein 22-jähriger Praktikant aus Tschechien, der die Schule besucht hat, erzählt von einem Schlüssel-Erlebnis an der Schule: Er hatte an staatlichen Schulen mehrfach die Zellteilung durchgenommen, diese jedoch nie behalten oder wirklich verstehen können – bis er an die Schetinin-Schule kam.
„Ein 11-jähriger begann mir die Zellteilung zu erklären. Er zeigte mir ein Buch, aber ich sah nur das Feuer in seinen Augen: Er wollte, dass ich es verstehe. In diesem winzigen Augenblick habe ich irgendwie die Zellteilung verstanden.“
Diese Wissens-Osmose funktioniert nur unter einer bestimmten Bedingung, glaubt Schetinin:
„Es ist es sehr wichtig, dass in den Lehrern kein Gedanke existiert, dass die Schüler ohne Wissen wären. Wenn ein Lehrer etwas so erklärt , als ob die Schüler ohne Wissen wären, dann werden die Schüler auf Dauer kaum etwas behalten können. Das zweite ist das gemeinsame Treffen auf der Ebene der Aufgabenlösung. Das Lernen geht dann wie von ganz allein. Die Aufmerksamkeit muss auf die Lösung gelenkt werden, statt auf das Auswendiglernen. Man muss den Gedanken von „Lernen“ völlig aufgeben und sich auf das Lösen konkreter Aufgaben ausrichten. Durch die Leichtigkeit der gemeinsamen Aufgabenlösung löst sich die Differenz von Schüler und Lehrer auf und dabei wird das wichtige Wissen aufgenommen. Es ist praktisch wie das Erinnern an etwas Eingeschlafenem. Der Mensch weiß alles!“
Kinder sind die besseren Lehrer
Dass Kinder Kinder unterrichten, hat viele Vorteile. Zum einen denken Kinder wie Kinder und können es so anderen Kindern besser erklären. Die Schüler an der Tekos-Schule haben inzwischen selbständig eine völlig neue Lern-Pädaogik für sich selbst entwickelt, und schreiben sich ihre fachübergreifenden Lehrbücher selbst, da die herkömmlichen Bücher aus ihrer Sicht nicht funktionierten.
Die Kinder treffen sich eigenständig, um zu besprechen, wie bestimmte Themen besser vermittelt und verstanden werden können. Und einen neuen Plan für zukünftige Schüler zu entwickeln, wie diese den Stoff leichter und schneller verinnerlichen können. Nur so war es möglich, ein System zu entwickeln, dass es Schülern ermöglicht in 4 Jahren den Stoff von 11 Klassen zu verstehen. Und dadurch, dass der Gedanke, jüngere Kinder wären nicht in der Lage, etwas zu verstehen, schlicht nicht existiert.
„Wir machen keine Trennung nach dem Alter. Für uns ist das sehr wichtig. Lehrer sind auf gleicher Ebene mit den Schülern. Ihre Aufgabe ist die Wissensweitergabe in 10 Tagen in solcher Art und Weise, dass die Schüler dieses Wissen auch weiter geben möchten.“ erklärt Schetinin. Oft sind es sogar gerade jüngere Schüler, die einen völlig neuen, kürzeren Weg finden, Dinge zu erklären oder zu lösen.
Aber auch wenn viele der Berichte über die Schule, vor allem das Lerntempo hervorheben – den Kindern selbst ist die Geschwindigkeit gar nicht wichtig:
„Jeder hat sein Tempo. Es ist egal, ob jemand in ein oder in vier Jahren fertig ist. Das innere Wachstum ist das, was zählt. Wenn spirituelles Wachstum stattfindet, ist Schul-Sachen zu lernen sehr, sehr einfach.“ erklärt eine gerade mal 14-jährige wie selbstverständlich.
Alle Kinder sind Genies
Wer die Kinder reden hört, mag sich fragen, wo Schetinin bloß so viele Genies aufgetrieben hat. Aber das hat er gar nicht.
„Wir testen keinen IQ. Wenn das Herz eines Kindes offen ist, ist es ein Genie. Wenn du sein Herz öffnest, seine Komplexe, alle Anspannung und Angst entfernst, dann wirst du ein Genie sehen, dass schon auf seinem ganz eigenen Weg ist“, legt Schetinin sein Pädagogik-Konzept dar.
Das Ziel seiner Arbeit, ist die spirituelle und persönliche Reifung der Kinder, die von Anfang an als Wissende, gleichwürdige Genies behandelt werden, als die Zukunft und der nächste Schritt der Menschheit und der neue Höhepunkt der Evolution. Wie sollte die letzte Stufe der Evolution die nächste unterrichten? Die Kinder tragen in seinen Augen alles Wissen in sich, auch neues Wissen, dass sie erst in die Welt bringen. Deshalb ist es so wichtig, dass sie sich gegenseitig und selbst unterrichten, nach ihrem eigenen System.
Der schönste Moment für Schetinin? „Das Kind stellt eine neue Frage und beantwortet sie sich selbst. Dabei entdeckt es Wissen, dass den Erwachsenen noch nicht bekannt war. Das ist das höchste Ziel, das Bildung erreichen kann.“
Ein ganzheitliches Konzept – inklusive Nationalismus?
Doch das (nicht)-Lernen ist nur ein Teil der Schule. Die Schüler verwalten sich komplett selbst. Sie mauern ihre Schule, sie sägen im eigenen Sägewerk die Bretter, aus denen sie Möbel bauen, sie renovieren, sie machen die Buchhaltung, waschen ihre eigene Wäsche, kochen, lernen ihre eigene Kleidung zu nähen, gestalten ihre Räume mit komplexen Wandmalereien und Mosaiken. Und zwar alle, egal in welchem Alter, nehmen an all diesen Aktivitäten teil. Wer diese Schule verlässt, ist ein Allround-Genie.
Was auf den ersten Blick erschreckend erscheinen mag, ist der fast militärische Teil der Schule: Die Schüler sind körperlich durchtrainiert, fast jeder macht leicht einen Salto aus dem Stand, Flick-Flacks oder sonstige akrobatische Manöver. Man ist offensichtlich in seinem Körper zu Hause. Sie sind in Kampfsport ausgebildet – auch an Waffen. So sieht man auch mal ein 10-jähriges Mädchen Schwertkampf auf Ninja-Niveau vorführen. Oder Jungs in Militär-Klamotten bei militärischen Kampfübungen im Wald. Wer diese Schule verlässt, ist nicht nur ein Allround-Genie, er ist auch ein Krieger. Angstfrei, durchtrainiert und stark.
Einerseits wirkt das sehr ganzheitlich und beeindruckend, dürfte aber gerade in Deutschland bei einigen auch ungute Gefühle und Erinnerungen wachrufen. Besonders, weil Kinder wie Erwachsene an der Schule keinen Hehl aus ihrem Nationalstolz machen, man lernt für Russland, für die Zukunft der Heimat. Die Schule legt großen Wert auf das Lernen von traditionellen Tänzen, Gesängen, Sagen, auf traditionelle Küche, traditionelle Trachten, traditionelle Musik, die Liebe zu Mutter Russland. Einem deutschen wird da zunächst vielleicht mulmig. Aber auch dafür hat Schetinin eine immerhin anhörenswerte Erklärung parat.
Die Kinder müssen an die kollektive Volksseele, ihre Ahnen angebunden sein, verwurzelt in der Natur ihres Heimatlandes. Nur so kann ein Mensch seine volle Kraft entfalten, meint Schetinin.
Und nur wenn Körper und Geist, konkretes und abstraktes Wissen, Wurzeln und Zweige sich gleichzeitig entwickeln, erblüht ein Mensch – die Kombination aller Bereiche zu einem ganzheitlichen Ansatz hat für Schetinin enorme Wichtigkeit.
„Es hat sich herausgestellt, dass sich Fähigkeiten in einem Bereich erst vollständig manifestieren, wenn auch Fähigkeiten in vielen anderen Bereichen des Lebens entwickelt werden. Junge Menschen erobern Gipfel, wenn ihnen noch nicht eingeredet wurde, dass diese Gipfel unerreichbar sind. Es ist unsere Auffassung, dass Fähigkeiten in einem Tätigkeits-Bereich sich aus Fähigkeiten in anderen Bereichen zusammensetzen. Wahres Talent ist ein ganzes Netzwerk von verschiedenen Gaben. Das bedeutet, dass die Entwicklung eines Satzes von Fähigkeit sich beschleunigt, wenn alle diese Fähigkeiten zusammen in Bewegung gesetzt werden. Auch um einen Spezialisten hervorzubringen, muss man folglich zuerst einmal einen ganzheitlichen Menschen hervorbringen – den Menschen als ein einheitliches Ganzes“, erklärt Schetinin.
„Unser Ziel ist nicht Wissen / Know-how / Gewohnheiten zu vermitteln. Es ist nicht endloses einstudieren und Auswendiglernen, oder das Eintrichtern von Informationen. Vielmehr ist es die Erhöhung des Menschen dahin, harmonisch zu leben, in Harmonie mit der Gesellschaft zu handeln – ein Mensch, der, wenn er die Erscheinungen des Lebens, die ihn umgeben sieht und analysiert, stets ihre Verbindung fühlen und die Welt als ein Ganzes wahrnehmen kann. Und egal, was er ist – ein Ingenieur, Physiker, Chemiker, Baumeister, Lehrer etc. – wird er verstehen, dass er in einer ganzen, vollständigen, einheitlichen Welt lebt.“
Wedische Philosophie
Besonderer Wert wird auch auf die Entwicklung von Spiritualität und Naturverbundenheit gerichtet. Der Eindruck einer gewissen Ideologie lässt sich dabei nicht ganz verscheuchen – die slawisch-wedische Philosophie und das Anastasia-Gedankengut sind allgegenwärtig. Alle Kinder haben ein verblüffendes spirituelles Wissen und eine tiefe Beziehung mit der Natur. Daran sind sicher vor allem viele positive Dinge zu finden, aber es ist irgendwie immer seltsam, wenn so viele Menschen ganz und gar einer Meinung sind.
Dennoch: Die Kinder sprechen für sich. Die Wachheit, Intelligenz, das Verantwortungsgefühl und die Würde, die sie ausstrahlen, sind schon etwas Besonderes.
Inspiration
Was immer man also über diese Schule denken mag: Man kommt nicht umhin, anzuerkennen, was sie leistet und sie ist eine enorme Quelle der Inspiration. Der Ansatz von Schetinin enthält viele wichtige, grundlegende Gedanken, die es verdient haben, gehört zu werden – auch wenn man vielleicht nicht mit allem einverstanden sein mag.
Wie viele anderen freien Schulen weltweit ist auch diese Schule ein Licht, welches unser gängiges Schulsystem eigentlich augenblicklich in sich zusammenstürzen lassen sollte. Denn was die herkömmliche Schule derzeit mit unseren Kindern tut, ist mit diesem Wissen, diesen Beweisen in keiner Weise mehr vertretbar.
Filmdokumentationen
Eine leuchtende Botschaft. Tekos – eine Schule der Zukunft
Richard Kandlin (17) – Natürliches lernen an der Schetinin Schule
Quelle: Sein.de
7 Pings
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